BEISPIELPROJEKT DER FIRMAKTION 2023
18.05.2023
"Es lässt mich nicht kalt", sagt Paula, wenn sie über ihr Ehrenamt spricht. "Aber", fügt sie nachdenklich hinzu, "ich darf es nicht an mich rankommen lassen, sondern muss Distanz wahren." Die 23-jährige Psychologie-Studentin tauscht sich an einem Nachmittag mit Flo aus, auch er ist Ehrenamtler und bestätigt, auch er sei "oft sprachlos" bei seiner Tätigkeit.
Die beiden sind Freiwillige im Caritas-Projekt [U25], einer Online-Beratungsstelle für Jugendliche in Krisen. Als "Peers", also Gleichaltrige, auf die das Projekt abzielt, stehen sie mit jungen Menschen in Kontakt, die oft am Abgrund des Lebens stehen und vielleicht Suizidgedanken haben. Der Austausch findet online und anonym statt. Aus diesem Grund heißen Paula und Flo im wahren Leben anders und auch im Chat geben sie sich andere Namen.
Die Anonymität sei eines der Erfolgsrezepte der Online-Jugendberatung, glaubt Christina Obermüller, die ehemalige Leiterin der Berliner [U25]-Beratung, jetzt wird das Projekt von Anna Ferrario geleitet. "Wir haben festgestellt, dass Jugendliche nicht in die Beratungsstellen gehen", sagt die Caritas-Sozialarbeiterin. In Freiburg wurde daraufhin 2002 das erste Online-Beratungsbüro gegründet. Schnell wuchs das Projekt auf elf Beratungsangebote bundesweit. Das 2013 eröffnete Berliner [U25]-Projekt betreut derzeit 40 ehrenamtliche Jugendliche, die Ansprechperson für Jugendliche in Krisensituation sind. Interessierte melden sich dort über ein Kontaktformular und bleiben mit einem oder einer der "Peers" im schriftlichen Austausch. Oft über Monate. Rund 150 Ratsuchende seien es jährlich, die allein vom Berliner Projekt begleitet werden, erklärt Obermüller.
Das Interesse ist freilich größer als das Angebot, denn die Hälfte der Zeit steht das Online-Ampelsystem der [U25]-Seite auf Rot, da keine neuen Anfragen gestellt werden können, weil die Ehrenamtlichen bereits viele Jugendliche begleiten. "Da warten dringend junge Menschen auf unsere Unterstützung und wir müssen aus Kapazitätsgründen unsere Tür schließen", beklagt Obermüller. Paula und Flo schaffen es zurzeit nur eine Person regelmäßigen zu begleiten, aber auch das sei sehr zeitintensiv, "weil die Mails nicht eben nebenbei in der S-Bahn beantwortet werden können. Man braucht einen ruhigen Moment", sagt Paula.
Sie bringt Erfahrung als Ehrenamtliche bei einem Sorgentelefon und den theoretischen Hintergrund ihres Psychologiestudiums mit. Dennoch sei die Ausbildung, die die "Peers" von der Caritas vorab erhalten, hilfreich. "Ich lerne dazu und merke, wie wichtig es ist, Menschen ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken, um neue Dinge in ihnen anzustoßen", sagt die 24-Jährige.
Ähnlich sieht es Flo, der als Informatikstudent ohnehin viel am Computer saß, als er zu [U25] dazugestoßen ist. Mittlerweile ist er berufstätig und weiterhin ehrenamtlicher Online-Berater. Und motiviert ist er, wenn er einen Entwicklungsprozess zum Positiven bei den Ratsuchenden beobachtet, sagt der 24-Jährige. "Das zeigt, dass wir eine wichtige Arbeit leisten." So habe es seine aktuelle Ratsuchende geschafft, aus der Klinik entlassen zu werden und hofft, bald den Alltag wieder bestehen zu können. "Das berührt mich stark."
"Manchmal habe ich das Gefühl, das hier ist der einzige Ort, an dem mir zugehört wird, ohne verurteilt zu werden. Wo ich schreiben kann, egal was ist und ich glaube, das hat mich in manchen Momenten tatsächlich schon gerettet", zitiert beispielhaft Sozialarbeiterin Obermüller die Worte anonymisierter Ratsuchender. Das sei berührend, sagt die Caritas-Mitarbeiterin. Denn viele der jungen Menschen haben das Gefühl, man nehme sie nicht wahr. "Sie suchen nach einem Ort, an dem sie sich anvertrauen können – egal mit welchem Problem."
Obermüller begleitet mit den Caritas-Hauptamtlichen den stets anonymen Schriftverkehr, zudem gibt es regelmäßig Supervisionen für die 40 ehrenamtlichen Online-Berater, denn gerade auch sie kommen in belastende Situationen. Von Suizidgedanken zu hören, sei eine große Herausforderung, gesteht Obermüller. Selbsttötung ist in Deutschland unter Jugendlichen die zweithäufigste Todesursache, rechnet sie vor. Allein 2021 starben nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes durch Suizid 9.215 Menschen, darunter 495 Personen unter 25 Jahren. Im Vorjahr waren es sogar 508 junge Menschen, die sich das Leben nahmen.
Sind diese Zahlen auf die Corona-Pandemie zurückzuführen? Immerhin war die Online-Beratung [U25] auch in den Zeiten des Lockdowns für die Jugendlichen erreichbar, sagt Obermüller. Junge Menschen hätten aufgrund der noch kaum erlebten Krisen noch keine Bewältigungsstrategien für ebenjene entwickelt. "Wenn dann die Pubertät, Stress in der Schule und durch die Eltern dazukommt, ist der Druck schnell da", konstatiert Obermüller. Können Jugendliche in solchen schwierigen Situationen dann ihre Suizidgedanken jemanden anonym schildern, mildere das den Druck. "Sie haben oft selbst Angst vor solchen Gedanken und davor, dass sie nicht ernst genommen werden."
Die Peer-Berater, die die Ratsuchenden auffangen, erteilen nicht etwa Ratschläge, stellt Paula klar. "Da läuft man Gefahr etwas falsch verstanden zu haben. Denn Ratschläge können auch Schläge sein", weiß sie. Es gehe darum, die Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. "Die Bedürfnisse der ratsuchenden Person und nicht unser Bedürfnis jemandem zu helfen, sollen befriedigt werden."
Suizid bleibe ein Tabu-Thema, gerade auch unter Jugendlichen. Es mache Angst und es existieren Mythen, dass man nicht darüber sprechen dürfe, um nicht andere Menschen auf diese Ideen zu bringen, beschreibt Obermüller einen Teil der gesellschaftlichen Debatte. "Doch gerade, wenn wir darüber reden, signalisieren wir, dass es hier auch Hilfsangebote gibt."
Und so sensibilisiert [U25] auch Verwandte und Freunde für das Thema. Nicht nur mit Flyern. So wurde eine S-Bahn mit dem Slogan "Ein Gespräch kann Leben retten" beklebt. Und die Caritas bildet immer wieder neue Peer-Berater aus, die jungen Menschen in Krisensituation anonym und online zur Seite stehen. Damit mehr solcher Zeilen die [U25]-Ehrenamtler erreichen: "Dass ich mal ganz offen sagen darf, hey mir geht es nicht gut, ich habe Suizidgedanken und verletze mich selber, das kann ich nur bei dir", zitiert die Caritas-Mitarbeiterin ein weiteres anonymes Feedback. "Daher danke ich dir, dass du meine Gefühle und Gedanken ernst nimmst."
(Markus Nowak)